Man sieht nur das, was man weiß. Goethes Weisheit kann an dieser Stelle bestätigt werden. An einem Sonntagnachmittag habe ich ein Blind Date zur Street Art Tour mit den „Feminists in the city“. Die genaue Adresse kommt erst kurz vor der Verabredung per Instagram: Treffpunkt ist das hübsche Viertel Butte-aux-Cailles, eine Art Miniatur-Montmartre, nur ohne die vielen Touristen. Wie oft bin ich hier schon durch die kleinen Gassen und verschlafenen Straßen spaziert, aber nie gesehen, wie viele Kunstschätze hier auf Wänden, Gullideckeln oder Stromkästen zu entdecken sind. Erfolgreich hat die kleine Hügelgemeinde nahe der Place d’Italie im 19. Jahrhundert den Planierungsplänen von Baron Haussmann getrotzt und damit sowohl ihren dörflichen Charme erhalten als auch ihren widerspenstigen Geist. „Die Butte-aux-Cailles ist heute ein Hotspot für die Street Art, eine Form der modernen Anarchie und Kommunikation“, sagt Julie, unser Guide und Co-Gründerin der etwas anderen Agentur für Stadtführungen. Die „Feminists in the city“ betrachten nicht nur die Kunstwerke im Louvre oder im Centre Pompidou oder die Rotlichtetablissements von Pigalle durch die feministische Brille, sondern eben auch die Street Art.
Vorm Restaurant Chez Gladines lernen wir das Werk von Miss Tic kennen. Sie ist die Pionierin der weiblichen Street Art von Paris, schon seit Mitte der 80er Jahre verewigt sie sich vor allem in diesem Viertel. Es ist ihr Revier. Ihre kurvigen, sexy Frauenbilder tragen durchaus subversive Botschaften: „Alerte à la bombe“ (Warnung vor der Bombe) schrieb sie über diese. Die Zeiten, wo ihr wegen Sachbeschädigung Geld- oder gar Gefängnisstrafen drohten, sind vorbei. Miss Tic ist längst in Galerien vertreten, arbeitet auch mit Museen, und die Besitzer der Häuserwände, die sie heute mit ihren Schablonen besprüht, fühlen sich nun geadelt, nicht beschmiert.
„Sie hat sogar eine Gegenbewegung männlicher Straßenkünstler hervorgebracht“, sagt Julie. Doch das Werk von Mass Toc, der neben ihre klassischen Sexbomben oft dicke, weniger attraktive Frauen sprüht, um ihr Schönheitsideal in Frage zu stellen, ist bereits wieder verschwunden. Bei dieser Kunst gilt das Gesetz der Straße. Was nicht gefällt, wird übersprüht, weggekratzt oder giftig kommentiert. Nichts ist von Dauer. In einer Straße hat eine Künstlerin hoch oben eine Leine gespannt und Stöckelschuhe daran aufgehängt, so wie in den Favelas Brasiliens Gangs ihr Territorium markieren. „Wer genau hinschaut, sieht, dass gerade in der Street Art sehr aktuelle Gesellschaftsthemen und vor allem Fragen nach Männlichkeit und Weiblichkeit verhandelt werden“, sagt Julie.
Street-Art-Künstlerinnen haben gerade viele Straßenschilder mit neuen Namen überklebt: Nach Frauen, die von ihren Partnern ermordet wurden. Andere fordern mit 100-Dollar-Noten im Namen der „United States of Matriarcat“, die Einkommenslücke zwischen Männern und Frauen zu schließen. Und Alys Cheshire bewaffnet Schneewittchen: „Fuck being a Princess. Give me the key to wonderland.“ Die Tour endet wieder mit Miss Tic und einer linguistischen Diskriminierung: „Le Masculin l’emporte mais où?“ (Das Männliche hat Vorrang – bloß wo?) fragt sie und Julie erzählt, dass die französische Grammatik erst im 19. Jahrhundert begann, die Frauen zu unterdrücken und für Berufe grundsätzlich nur männliche Formen zu verwenden. Noch heute stolpere ich regelmäßig über die Tatsache, dass man eine Ministerin oft als „Madame le Ministre“ anspricht. Das Altfranzösisch, so lerne ich, kannte noch „philosophesses“, Philosophinnen. Seit diesem Spaziergang sehe ich Paris mit anderen Augen – und entdecke in der ganzen Stadt die nackten Gipsbrüste von Intra LaRue oder die Herzen von HeartCraft. Die Häuserwände von Paris sprechen, und es lohnt sich, genauer hinzuhören.
www.feministsinthecity.com
© Silke Bender